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ENTSTEHUNGSZEIT: 1893/94

ERSTDRUCK: Arnold Schönberg, Sämtliche Werke, Abteilung VI, Reihe A, Bd. 24, hrsg. v. Reinhold Brinkmann, Mainz-Wien 1996, S. 169-174.

Während einer Radiosendung im Jahr 1931 bekundet Schönberg ein distanziertes Verhältnis zu seinen frühen Werken: »Was ich als junger geschaffen habe ist Vorstufe und Mängel kann man hauptsächlich dadurch erkennen, weil ich es seither besser zu sagen verstehe.« Tatsächlich bietet das kompositorische Schaffen vor 1900 ein ausgesprochen heterogenes Bild. Vollendetes steht neben zahlreichen Fragmenten, nur bei wenigen Stücken ist eine Aufführungsgeschichte nachgewiesen. Schönbergs Weg scheint im Frühwerk noch in alle Richtungen offen und kaum einmal auf den musikalischen Visionär hinzudeuten. Eine Ausnahme bildet vielleicht das kaum bekannte Ensemblestück »Es ist ein Flüstern in der Nacht«. Schönberg entnahm den Text von Theodor Storm der Anthologie »Die deutsche Lyrik der Gegenwart« (Leipzig 1884), der auch weitere Gedichtvertonungen entstammen, die auf Mitte der 1890er Jahre datiert werden. Die Besetzung für Tenor und Streichquartett scheint auf den Finalsatz von Schönbergs Streichquartett Nr. 2 op. 10 vorauszuweisen. Das Stück ist allerdings kaum in dieser Gattungstradition zu verorteten, sondern ein erweitertes Kunstlied ähnlich zahlreichen Arrangements von Werken Mozarts, Beethovens oder Schubert.

Zu Beginn erklingen über einer regelmäßigen Begleitung 16tel-Ketten in der 1. Violine – ein Naturbild, das vielleicht das Wehen des Windes in der Nacht ausmalt. Auf einen forte-Ausbruch folgt ein bewegter Mittelteil, der bald wieder in die ruhige Klangsphäre des Anfangs mündet. Nach einem fortissimo Einsatz auf fis’ schwingt sich die Tenor-Stimme bei dynamischer Steigerung immer höher, bis mit der Anweisung »ffpp« (wahrscheinlich: fortissimo, subito pianissimo) der Ton h‘ erreicht ist. In den letzten Takten kehren die 16tel-Ketten im Violoncello wieder, woraufhin die Musik einigermaßen überraschend verebbt. Angesichts der hohen technischen Anforderungen scheint das Stück wenig für die musikalische Praxis geeignet. Die sängerische Tour de Force sollte in den 1911 entstandenen »Herzgewächsen« op. 20 jedoch ein Gegenstück finden. »Es ist ein Flüstern in der Nacht« zeigt den Komponisten auf der Suche nach Ausdrucksvaleurs, die er viele Jahre später souverän in Klang übersetzen sollte.

Eike Feß | © Arnold Schönberg Center